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IHK Hochrhein-Bodensee: Umsatzeinbußen im LEH an der Schweizer Grenze

Im Interview berichtet Industrie- und Handelskammer(IHK)-Hauptgeschäftsführer Claudius Marx, wie sich die Grenzschließung auf den Einzelhandel ausgewirkt hat und welche Erwartungen mit der vermutlich baldigen Grenzöffnung verbunden sind.

Bildquelle: Shutterstock.com Einkauf
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Coronavirus - "Solange die Grenze nicht offen ist, ist die Krise hier nicht vorbei"
 

Wie hat sich die Grenzschließung auf den Einzelhandel in der Region ausgewirkt?

In Bezug auf den Einzelhandel und die Gastronomie, soweit sie nicht ohnehin geschlossen waren, sind die Auswirkungen natürlich markant. Kunden aus der Schweiz, die oft nur eine Brücke überqueren müssen, um hier einzukaufen (in Konstanz nicht einmal das!), machen im Schnitt ein Drittel, in einzelnen Branchen aber bis zu zwei Dritteln der Kundschaft aus. Die Grenzregion Südbadens ist so seit vielen Jahren zum Nahversorger der Nordschweiz geworden. Der gängige Begriff "Einkaufstourismus" ist eher irreführend, "Einkaufsalltag" träfe es besser. Eben dieser Alltag ist nun gänzlich ausgefallen. Im Lebensmitteleinzelhandel wurden durch die Grenzschließung Umsatzrückgänge zwischen 30 und 60 Prozent festgestellt. Viele Händler fürchten um ihre Existenz, sollten die Grenzen zur Schweiz nicht bald wieder vollständig geöffnet werden.
Nichts Anderes gilt für Gastronomie und Hotellerie und zahlreiche Dienstleistungen, deren Geschäftsmodell den unmittelbaren Kontakt zum Kunden voraussetzt, vom Tattooshop über den Frisör und Busunternehmer bis zum Fitnessstudio. Für sie alle gilt: Solange die Grenze nicht offen ist, ist die Krise nicht vorbei. Wie hoch sich der Schaden am Ende der Corona-Pandemie aufsummieren und ob und wie viele Insolvenzen es auf dem Weg dahingeben wird, ist im Moment schwer absehbar. Der verbleibende, nachhaltige Schaden hängt davon ab, wie lange die Situation andauert. Für unsere Grenzregion, aber auch für die Nordschweiz ist jeder Tag, an dem wir ohne Not die Rückkehr zur wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und sozialen Normalität versäumen, ein verlorener Tag und ein nicht zu unterschätzender wirtschaftlicher Schaden.

Info: Kunden aus der Schweiz haben im Jahr 2019 für ca. 1,5 Milliarden Euro in den Landkreisen Lörrach, Waldshut und Konstanz eingekauft.

Konnte die heimische Bevölkerung die Umsatzeinbrüche etwas abfedern?  

Die heimische Bevölkerung ist für den Handel enorm wichtig, konnte die Umsatzeinbrüche aber nicht abfedern. Solange die Freizügigkeit eingeschränkt bleibt, können gerade Unternehmen in der Gastronomie, der Hotellerie und im Einzelhandel nur einen "halben Markt" bedienen. Wer "180 Grad seines Geschäftsgebietes" nicht erreichen kann, wird das mit seinen Kunden aus dem verbleibenden Halbkreis nicht auffangen können - erst recht nicht, wenn die notwendigen Hygienekonzepte das Handling vor Ort erschweren. Einen Normalbetrieb werden wir erst dann wiederhaben, wenn die Grenzen beidseitig und ohne Einschränkung für Personen, Waren und Dienstleistungen geöffnet sind. Noch einmal:
Solange die Grenze nicht offen ist, ist die Krise hier nicht vorbei!

Wir fordern deshalb weiter mit Nachdruck, schon jetzt auf das Bestehen und Prüfen eines ‚triftigen‘ Grundes für den Grenzübertritt ersatzlos zu verzichten. Jeder Bürger, der von Konstanz nach Kreuzlingen fährt oder in Laufenburg über die Brücke geht, hat dafür einen Grund. Es ist eine Zumutung für den Grenzbeamten und für den Bürger, hier nach "triftigen" und weniger "triftigen" Gründen unterscheiden zu müssen. Und es ist ein menschlich wie rechtlich fragwürdiger Eingriff in Grundrechte, wenn Privatpersonen genötigt werden, die Intensität ihrer Beziehungen über die Grenze etwa durch Urlaubsphotos und Selbsterklärungen zu belegen. Der Schengen - Kodex erlaubt Grenzkontrollen an den Binnengrenzen nur als "letztes Mittel" zur Abwendung einer Gefahr für die innere Sicherheit oder die öffentliche Ordnung und verpflichtet überdies zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit. An diesen Voraussetzungen fehlt es augenscheinlich, nachdem die Bedrohung durch das Virus, die dagegen ergriffenen Maßnahmen und die damit erzielten Erfolge in beiden Ländern bereits heute dieselben sind.

Welche Erwartungen gibt es im Hinblick auf die komplette Grenzöffnung am 15. Juni?

Wir rechnen nicht mit dem verschiedentlich befürchteten "Ansturm" auf deutsche Geschäfte und Einkaufszentren, sondern gehen von einem eher langsam anlaufenden, stetigen Prozess aus. Es gibt generell eine Zurückhaltung der Kunden, die zum Teil auf der verwirrenden Vielfalt und Änderungsgeschwindigkeit der Corona - Vorgaben beruht, zum Teil auf der Vorsicht der Menschen, die vielfach noch immer zuhause bleiben,  und zum Teil auf den Hygienekonzepten, die das Einkaufs- und Gastronomieerlebnis belasten. Das gilt für Aus- und Inlandskunden gleichermaßen.
Die Befürchtung, durch Schweizer Kunden stiegen die Corona-Infektionszahlen wieder an, teilen wir ebenfalls nicht. Unsere Nachbarn sind für ihre Normtreue bekannt und an dieselben Verhaltensregeln gewöhnt, die wir hier anwenden. Ein Schweizer Gast oder Kunde wird denselben Abstand halten und denselben Mund- und Nasenschutz tragen wie der deutsche Gast oder Kunde neben ihm. Umgekehrt ist die Gefahr einer Infektion für den Kreuzlinger in Konstanz keine andere und keine größere als für den Singener oder Stuttgarter: Das Virus schaut nicht in den Reisepass.
Wann und ob der Handel wieder das Umsatz-Niveau vor der Pandemie erreichen wird, ist dennoch ungewiss, zumal der Einkaufstourismus bereits vor Corona im Sinkflug war:  Während im Bereich der Hauptzollämter Singen und Lörrach im Jahre 2016 noch 17,6 Millionen Ausfuhrbescheinigungen testiert wurden, waren es 2018 nur noch 15,85 Mio und 2019 nur noch 15,59 Mio. Bereits deshalb wird es keine vollständige Rückkehr zum status quo ante geben.

Zwischenzeitlich gab es von unterschiedlichen Seiten Bedenken, ob die Corona-Schutzregeln überhaupt eingehalten werden können, wenn die Schweizer wieder auf deutscher Seite einkaufen. Was sagen Sie dazu?

Diese Sorge teilen wir nicht. Sicherlich kann es an der ein oder anderen Stelle zu Herausforderungen oder Wartezeiten kommen. Grundsätzlich ist der Handel aber gut auf die Schweizer Kundschaft vorbereitet und hat alle notwendigen Hygieneschutzmaßnahmen ergriffen, um die Kunden zu schützen. Allen ist bewusst, dass ein zweiter Lockdown eine Katastrophe wäre. Deswegen liegt es im ureigenen Interesse des Handels, dass alle Hygienevorschriften und Abstandsregelungen eingehalten werden. Weder haben wir Zweifel an der Kooperationsbereitschaft der Kunden aus der Schweiz, wenn es um die Einhaltung und Umsetzung der Hygienekonzepte geht, noch fürchten wir quantitativ einen Andrang, der nicht ohne Verletzung der Hygienemaßnahmen abgearbeitet werden könnte. Die Erfahrungen, die wir mit der Wiedereröffnung des lokalen (Nonfood- ) Einzelhandels in den vergangenen Wochen gemacht haben, zeigen, dass das Einkaufsverhalten der Konsumenten noch eher von Vorsicht und Zurückhaltung geprägt ist.

Quelle: Industrie- und Handelskammer Hochrhein-Bodensee

Veröffentlichungsdatum: 10. Juni 2020